Geschäftsnummer: VWBES.2022.298
Instanz: Verwaltungsgericht
Entscheiddatum: 08.05.2023 
FindInfo-Nummer: O_VW.2023.108
Titel: Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung

Resümee:

 

Verwaltungsgericht

 

Urteil vom 8. Mai 2023      

Es wirken mit:

Vizepräsident Müller

Oberrichterin Weber-Probst

Oberrichter Frey   

Gerichtsschreiberin Hasler    

 

In Sachen

A.___, vertreten durch Rechtsanwalt Alexander Kunz

 

Beschwerdeführerin

 

 

gegen

 

 

Departement des Innern, vertreten durch Migrationsamt

 

Beschwerdegegner

 

 

betreffend     Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung


zieht das Verwaltungsgericht in Erwägung:

 

I.

 

1. A.___ (im Folgenden: Beschwerdeführerin), geb. 1964, aus der Türkei stammend, kam im Jahr 1983, im Alter von 19 Jahren, im Rahmen des Familiennachzugs in die Schweiz. Zwecks Verbleibs bei ihrem damaligen Ehemann erhielt die Beschwerdeführerin zunächst eine Aufenthaltsbewilligung, im Jahr 1989 eine Niederlassungsbewilligung, welche in der Folge – zuletzt bis zum 31. Juli 2020 – verlängert wurde (pag. 2 – 95). Der Ehe entstammen drei Kinder (Jg. 1985, 1989 und 1997). Die Ehegatten lebten die klassische Rollenteilung. Die Ehefrau betreute die Kinder, kümmerte sich um den Haushalt und war nie erwerbstätig. Die Ehegatten trennten sich im März 2006. Die Scheidung, welche der Ehemann gemäss ihren Angaben in der Türkei anhängig machte, erfolgte im Jahr 2011 (pag. 160). Gemäss eigenen Angaben habe die Beschwerdeführerin keine Unterhaltszahlungen des Ehemannes erhalten. Seit 16. März 2006 bezieht die Beschwerdeführerin Sozialhilfe (pag. 96). Der Sozialhilfebetrag belief sich per 15. August 2022 auf rund CHF 351'546.00 (pag. 156). Zurzeit läuft eine Abklärung bei der IV (pag. 120 – 124, 133).

 

2. Am 28. Mai 2020 ersuchte die Beschwerdeführerin um Verlängerung der Kontrollfrist ihrer Niederlassungsbewilligung (pag. 99). Zwischen dem 6. August 2020 und dem 5. August 2021 erkundigte sich die Beschwerdeführerin – bzw. aufgrund ihrer defizitären Deutschkenntnisse ihre Tochter oder ein Bekannter – wiederholt schriftlich oder telefonisch beim Migrationsamt des Kantons Solothurn (MISA) nach dem Stand des Verfahrens. Ihr wurde mitgeteilt, dass die Prüfung der Verlängerung der Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung aufgrund ihres Sozialhilfebezugs noch andaure (pag. 107 – 199).

 

3. Mit Schreiben vom 30. November 2021 stellte das MISA der Beschwerdeführerin in Bezug auf das Gesuch um Verlängerung der Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung diverse Fragen (pag. 136). Mit Schreiben vom 7. Dezember 2021 teilte Rechtsanwalt Alexander Kunz dem MISA mit, die Beschwerdeführerin habe ihn mit der Wahrung ihrer Interessen beauftragt (pag. 139). Mit Schreiben vom 22. Dezember 2021 nahm die Beschwerdeführerin Stellung zum Schreiben des MISA vom 30. November 2021 und beantragte, das Gesuch um Verlängerung der Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung vom 28. Mai 2020 sei gutzuheissen (pag. 151 – 153).

 

4. Nach weiteren Abklärungen seitens des MISA gewährte dieses der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 18. Mai 2022 das rechtliche Gehör betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung aus der Schweiz bzw. Rückstufung (pag. 162 – 167).

 

5. Mit Schreiben vom 8. Juni 2022 nahm die Beschwerdeführerin zum Schreiben des MISA vom 18. Mai 2022 Stellung und beantragte, es sei von einer allfälligen Widerrufsanordnung der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung aus der Schweiz bzw. von einer Rückstufung der Niederlassungsbewilligung abzusehen. Eventualiter sei sie ausländerrechtlich zu verwarnen. Das migrationsrechtliche Verfahren sei bis zum Abschluss des IV-Verfahrens zu sistieren.

 

6. Mit Verfügung vom 5. August 2022 wies das MISA das Gesuch ab, widerrief die Niederlassungsbewilligung der Beschwerdeführerin und wies sie aus der Schweiz weg.

 

7. Mit Beschwerde vom 17. August 2022 gelangte die Beschwerdeführerin ans Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn und beantragte, die Verfügung des MISA vom 5. August 2022 sei aufzuheben, von der Widerrufsanordnung der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung aus der Schweiz sei abzusehen, eventualiter sei die Beschwerdeführerin ausländerrechtlich zu verwarnen, subeventualiter sei die Sache zur weiteren Abklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem beantragte sie die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten des Staates Solothurn.

 

8. Mit Verfügung vom 18. August 2022 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt.

 

9. Nach bewilligter Fristerstreckung reichte die Beschwerdeführerin am 22. September 2022 eine einlässliche Begründung der Beschwerde ein.

 

10. Mit Vernehmlassung vom 14. Oktober 2022 schloss das MISA auf Abweisung der Beschwerde, unter Kostenfolge.

 

11. Mit Verfügung vom 17. Oktober 2022 wurde der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege samt unentgeltlichem Rechtsbeistand bewilligt.

 

12. Mit Schreiben vom 21. November 2022 reichte die Beschwerdeführerin weitere Bemerkungen sowie ein Schreiben von Dr. med. [...] vom 17. November 2022 und den angekündigten [...]-Sprachnachweis nach. 

 

13. Mit Schreiben vom 7. Dezember 2022 reichte die Beschwerdeführerin letzte Bemerkungen und Absageschreiben von Arbeitgebern / Arbeitgeberinnen der letzten zwei Wochen ein.

 

14. Für die Parteistandpunkte und die Erwägungen der Vorinstanz wird grundsätzlich auf die Akten verwiesen. Soweit erforderlich, ist nachfolgend darauf einzugehen.

 

II.

 

1. Die Beschwerde ist frist- und formgerecht erhoben worden. Sie ist zulässiges Rechtsmittel und das Verwaltungsgericht zur Beurteilung zuständig (vgl. § 49 Gerichtsorganisationsgesetz, GO, BGS 125.12). Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Entscheid beschwert und damit zur Beschwerde legitimiert. Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.1. Die Niederlassungsbewilligung kann widerrufen werden, wenn die Ausländerin oder der Ausländer oder eine Person, für die sie oder er zu sorgen hat, dauerhaft und in erheblichem Mass auf Sozialhilfe angewiesen ist (Art. 62 Abs. 1 lit. c des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration [AIG; SR 142.20]). Beim Widerruf der Niederlassungsbewilligung eines Ausländers wegen Bedürftigkeit geht es in erster Linie darum, eine zusätzliche künftige Belastung der öffentlichen Wohlfahrt zu vermeiden. Ob dieses Ziel erreicht werden kann, ist kaum je mit Sicherheit zu ermitteln. Es muss daher die wahrscheinliche Entwicklung der finanziellen Situation der ausländischen Person berücksichtigt werden. Nach der Rechtsprechung ist eine andauernde konkrete Gefahr einer Sozialhilfeabhängigkeit erforderlich; Hypothesen und pauschalierte Gründe genügen hierzu nicht (vgl. Urteile 2C_42/2011 vom 23. August 2012 E. 5.4; 2C_685/2010 vom 30. Mai 2011 E. 2.3.1 und E. 2.3.2). Neben den bisherigen und den aktuellen Verhältnissen ist auch die wahrscheinliche finanzielle Entwicklung auf längere Sicht in die Beurteilung miteinzubeziehen. Ein Widerruf fällt in Betracht, wenn eine Person hohe finanzielle Unterstützungsleistungen erhalten hat und nicht damit gerechnet werden kann, dass sie in Zukunft selber für ihren Lebensunterhalt sorgen wird (BGE 122 II 1 E. 3c S. 8; Urteile 2C_1228/2012 vom 20. Juni 2013 E. 2.3 und 2C_74/2010 vom 10. Juni 2010 E. 3.4 mit Hinweis).

 

2.2. Die Beschwerdeführerin war seit ihrer Einreise in die Schweiz nie erwerbstätig. Sie wurde seit der Trennung von ihrem Ehemann im Jahr 2006 ununterbrochen und vollumfänglich von der Sozialhilfe unterstützt. Die bezogenen Leistungen betrugen per 15. August 2022 CHF 351'546.11 (pag. 156). Ein solcher Sozialhilfebezug hat im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung als erheblich und dauerhaft zu gelten (vgl. auch Urteil 2C_98/2018 vom 7. November 2018 E. 4.2). Dass der vorliegende Sozialhilfebezug den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. c AIG grundsätzlich erfüllt, bestreitet die Beschwerdeführerin nicht (Beschwerdebegründung vom 22. September 2022, S. 6, BS 9). Eine Rückkehr der heute 59-jährigen Beschwerdeführerin auf den ersten Arbeitsmarkt ist aufgrund ihres Alters, ihrer ungenügenden Deutschkenntnisse, der fehlenden Berufsausbildung und der langjährigen Fürsorgeabhängigkeit kaum realistisch. Dies bestätigen auch die eingereichten Bewerbungsantwortschreiben (allesamt Absagen) der angeschriebenen Arbeitgeber / Arbeitgeberinnen (pag. 176 – 180; Beilagen zum Schreiben vom 7. Dezember 2022). Hierzu ist zu bemerken, dass es sich um Bewerbungen als Reinigungskraft handelt, wo Sprachkenntnisse oder Berufsausbildung eine weniger bedeutsame Rolle spielen. Dies lässt darauf schliessen, dass es auch im Niedriglohnsektor praktisch unmöglich sein wird, sich beruflich zu etablieren. Dem eingereichten Sprachnachweis ist zwar zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin am 29. September 2022 die mündliche Deutschprüfung, Niveau A1, bestanden hat, die schriftliche jedoch nicht. Die Beschwerdeführerin ist der Meinung, sollte nach Zusprechung einer IV-Rente eine Restarbeitsfähigkeit attestiert werden, werde die Beschwerdeführerin mit fortschreitender Integration eine für sie geeignete Arbeit finden und so ihre Arbeitsleistung mit Sicherheit steigern können, so dass die Prognose im Hinblick auf eine Ablösung von der Sozialhilfe, zumindest auf eine Verringerung der Bezüge, keineswegs schlecht aussehe. Dem muss widersprochen werden. Die Beschwerdeführerin ist seit 40 Jahren in der Schweiz. Sie ist 59-jährig. Wenn sie zum aktuellen Zeitpunkt weder sprachlich noch wirtschaftlich integriert ist, kann davon ausgegangen werden, dass sie es in Zukunft auch nicht sein wird. Sowohl die sprachliche als auch die wirtschaftliche Integration muss klar als gescheitert angesehen werden. Eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt erscheint unter diesen Umständen als höchst fragwürdig. Es ist somit kaum vorstellbar, dass sich die Beschwerdeführerin von der Sozialhilfe wird ablösen können. Der Widerrufsgrund der Niederlassungsbewilligung ist erfüllt.

 

3.1. Wenn ein Widerrufsgrund vorliegt, so ist zu prüfen, ob die damit verbundene aufenthaltsbeendende Massnahme verhältnismässig ist, was eine umfassende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Fernhalteinteresse und dem gegenüberstehenden privaten Interesse der Beschwerdeführerin an einem weiteren Verbleib in der Schweiz erfordert. Bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen sind insbesondere die Natur des Fehlverhaltens der Betroffenen, der Grad ihrer Integration bzw. die Dauer der bisherigen Anwesenheit und die ihr und ihrer Familie drohenden Nachteile. Auch ist der Qualität der sozialen, kulturellen und familiären Beziehungen zum Gast- wie zum Heimatstaat Rechnung zu tragen. Wenn der betroffenen Person – wie vorliegend – Sozialhilfeabhängigkeit vorgeworfen wird, so sind im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung namentlich die Ursachen der Sozialhilfeabhängigkeit zu berücksichtigen, ebenso wie die Schwere des Verschuldens an dieser Abhängigkeit. Für die Frage, ob die Beschwerdeführerin ihre Sozialhilfeabhängigkeit (teilweise) selbst verschuldet hat oder durch Krankheit an der Arbeitsaufnahme gehindert wurde, ist der gesamte Zeitraum des Sozialhilfebezugs zu betrachten (vgl. zum Ganzen Urteil des Bundesgericht 2C_716/2021 vom 18. Mai 2022, E. 3). 

 

3.2. Die Beschwerdeführerin geht davon aus, dass der Sozialhilfebezug unverschuldet ist. Den IV-Akten könne entnommen werden, dass die Beschwerdeführerin seit Februar 2013 wegen einer neuropsychiatrischen Erkrankung in psychotherapeutischer Behandlung sei. Gemäss Dr. med. [...], FMH Psychiatrie, sei klar eine Arbeitsunfähigkeit von derzeit 100 % ausgewiesen (Arztbericht von Dr. med. [...] vom 4. Oktober 2021). Damit ist jedenfalls belegt, dass sich die Beschwerdeführerin ab der Trennung von ihrem Ehemann im Jahr 2006, mindestens für sieben Jahre, trotz fehlender gesundheitlicher oder körperlicher Beeinträchtigung nicht um eine Erwerbstätigkeit kümmerte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt 42 Jahre jung und ihr j.gstes Kind 9-jährig war. Das Bundesgericht wendet im Bereich des Ausländerrechts nicht die scheidungsrechtliche Praxis an, sondern zieht die sozialversicherungs- und sozialhilferechtliche Betrachtungsweise bei, wonach auch einer alleinerziehenden Person grundsätzlich bereits ab etwa dem 3. Altersjahr des Kindes zumindest eine teilweise Erwerbstätigkeit zugemutet wird (Urteil des Bundesgerichts 2C_158/2021 vom 3. Dezember 2021, E. 6.3.2). Ihr wäre zuzumuten gewesen, zumindest teilweise erwerbstätig zu sein. Der erste Nachweis der Stellensuche datiert auf den 14. Dezember 2021 (pag. 176), dies, nachdem ihr das MISA bereits mehrmals mitgeteilt hat, die Verlängerung der Niederlassungsbewilligung werde aufgrund ihrer Sozialhilfebezüge überprüft (pag. 107, 110, 119, 136 f.). Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt unterliess die Beschwerdeführerin jegliche Integrationsbemühungen. Zum hängigen IV-Verfahren ist folgendes festzuhalten: Das aktuellste Gesuch um Zusprechung von IV-Rente datiert vom 11. August 2021. Der Ausgang des Verfahrens ist ungewiss, doch muss die Prognose als schlecht bis aussichtslos eingestuft werden, zumal die Beschwerdeführerin bereits fünf Gesuche um Zusprechung einer IV-Rente (eines davon betreffend Früherfassung) eingereicht hat, wobei sämtliche Gesuche abgewiesen wurden, soweit überhaupt darauf eingetreten wurde (pag. 134). Zwar ist der Beschwerdeführerin zuzustimmen, wenn sie geltend macht, Dr. med. [...] habe in ihrem Arztbericht vom 27. Januar 2022 ausgeführt, eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustands der Beschwerdeführerin sei glaubhaft gemacht worden. Allerdings ergibt sich aus demselben Bericht, dass der Hausarzt, Dr. [...], in einem Bericht vom 29. September 2021 als hemmende Eingliederungsfaktoren die Sprachbarriere, die Motivation und die kulturelle Einstellung benannte. Er attestierte keine Arbeitsunfähigkeit und hielt fest, dass eine angepasste Tätigkeit von vier bis sechs Stunden möglich ist. Zusammengefasst führte Dr. med. [...] aus, das psychische Leiden lasse sich angesichts des knappen IV-Berichts des behandelnden Psychiaters aus versicherungsmedizinischer Sicht nicht nachvollziehen. Bezüglich der ungünstigen Prognose einer Eingliederungsfähigkeit seien im Bericht des Hausarztes diverse IV-fremde Faktoren benannt worden, die aus IV-Sicht ausgeklammert werden müssten. Mit der Zusprache einer IV-Rente kann gestützt auf die aktuellen Akten kaum gerechnet werden. Das Bundesgericht erwog im Übrigen in 2C_716/2021, E. 2.2.2., dass nach der dritten erfolglosen Anmeldung bei der IV nicht mehr mit einer IV-Rente gerechnet werden kann. Doch sogar wenn die Beschwerdeführerin eine Teil-IV-Rente zugesprochen erhielte, ist nicht anzunehmen, dass sie sich von der Sozialhilfe wird lösen bzw. den bezogenen Sozialhilfebetrag erheblich wird reduzieren können. Die bis zum Zeitpunkt zur allfälligen Gutheissung einer Rente bezogene Sozialhilfe ist ihr jedenfalls vorwerfbar.

 

3.3. Weiter moniert die Beschwerdeführerin, sie hätte zumindest verwarnt werden müssen bzw. die mildere Massnahme der Verwarnung sei angemessen und verhältnismässig. Gemäss Art. 96 Abs. 2 AIG kann die betroffene Person unter Androhung der Massnahme verwarnt werden, wenn eine Massnahme begründet ist, aber den Umständen nicht angemessen. Die Beschwerdeführerin verkennt, dass diese Bestimmung im Ermessen der Behörden liegt. Eine Verwarnung muss nicht immer einem Bewilligungswiderruf vorangehen. Ob eine Verwarnung ausgesprochen wird, hängt vom Einzelfall ab. Nicht angehen kann, dass die Behörde verpflichtet ist, jeden im Lande weilenden Ausländer ständig (zu) beaufsichtigen und ihn zurechtzuweisen, wenn sein Verhalten sich der Grenze des Zulässigen nähert (Schindler Benjamin, in: Caroni Martina/Gächter Thomas/Thurnherr Daniela (Hrsg.), zu Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG), Bern 2010, Art. 96 N 19). Wohl ist insbesondere bei einem langfristigen Aufenthalt eher zu verlangen, dass die Person verwarnt wird (Urteil des Bundesgerichts 2C_283/2011 vom 30. Juli 2011, E. 2.3). Vorliegend lebt die Beschwerdeführerin seit rund 40 Jahren in der Schweiz, was unbestrittenermassen einer sehr langen Aufenthaltsdauer entspricht. Allerdings hätte eine schriftliche Verwarnung vorliegend mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an der Sache nichts geändert. Die Beschwerdeführerin weiss gemäss ihren Angaben spätestens seit dem 5. August 2021 von den ausländerrechtlichen Folgen ihres Sozialhilfebezugs. Seither sind knapp zwei Jahre vergangen. Die formlose Verwarnung hat nicht dazu geführt, dass die Beschwerdeführerin ihre soziale oder wirtschaftliche Situation seither verändert hätte. Vielmehr ergibt sich aus der Besuchsbestätigung des Deutschkurses, dass sie diesen zu weniger als 80 % besucht hat und sie kann für den Zeitraum von 13 Monaten lediglich 10 Bewerbungen vorweisen. Es ist anzunehmen, dass auch eine Verwarnung nicht zum gewünschten Erfolg geführt hätte bzw. führen würde. Zudem ist festzuhalten, dass der Beschwerdeführerin – insbesondere auch aufgrund des Scheidungsverfahrens und der diversen IV-Verfahren – hätte klar sein müssen, dass der Bezug von Sozialhilfe nicht einfach normal ist, sondern ultima ratio und verschiedene Konsequenzen nach sich ziehen kann. Darüber hinaus trat die Gesetzesänderung, wonach nun auch Personen, die sich seit mehr als 15 Jahren ununterbrochen und ordnungsgemäss in der Schweiz aufhalten, wegen Sozialhilfebezugs aus der Schweiz weggewiesen werden können, per 1. Januar 2019 in Kraft, d.h. seit bereits vier Jahren. Im Übrigen ist aus der Aktennotiz des MISA vom 6. August 2020 ersichtlich, dass der Sozialhilfebezug bereits damals Thema war. Auch aufgrund ihres fehlenden Willens, an der eigenen Situation nachhaltig und mit allem Nachdruck etwas zu verbessern sowie dem gleichzeitigen Abwarten eines hängigen IV-Verfahrens, ist es der Beschwerdeführerin innerhalb dieser Zeitspanne nicht gelungen, zumindest eine Teilerwerbstätigkeit auszuführen. Im Übrigen hat das Bundesgericht im bereits erwähnten Urteil 2C_716/2021 vom 18. Mai 2022 in Erwägung 3.5. festgehalten, dass eine Verwarnung zwar der Regelfall darstellen würde. Gemäss ständiger Rechtsprechung sei es jedoch gerechtfertigt, die Niederlassungsbewilligung selbst einer ausländischen Person zweiter Generation ohne Verwarnung zu widerrufen, wenn sich die aufenthaltsbeendende Massnahme als verhältnismässig und den Umständen angemessen erweise. Demzufolge ist nicht angezeigt, die Beschwerdeführerin als mildere Massnahme mit vorliegendem Urteil zu verwarnen.

 

3.4. Die Beschwerdeführerin beruft sich in ihrer Beschwerde ferner auf Art. 8 EMRK, das Recht auf Privatleben. Um aus dem Recht auf Achtung des Privatlebens – ausserhalb der Kernfamilie – einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer ausländerrechtlichen Bewilligung ableiten zu können, bedarf es besonders vertiefter, über eine normale Integration hinausgehender Bindungen gesellschaftlicher oder beruflicher Natur bzw. vertiefter sozialer Beziehungen zum ausserfamiliären bzw. ausserhäuslichen Bereich; hierfür genügen eine lange Anwesenheit und die damit normalerweise verbundenen Beziehungen nicht; erforderlich ist eine eigentliche Verwurzelung in die hiesigen Verhältnisse (Urteil des Bundesgerichts 2C_949/2017 vom 23. März 2018, E. 3.). Die Beschwerdeführerin ist in der Schweiz weder besonders sozial, noch sprachlich, noch wirtschaftlich integriert. Sie kann aus Art. 8 EMRK keinen Rechtsanspruch für sich ableiten.

 

3.5. Die Beschwerdeführerin führt mehrmals das Argument ins Feld, ein Widerruf sei aufgrund der 40-jährigen Anwesenheit der Beschwerdeführerin in der Schweiz unverhältnismässig. Der Beschwerdeführerin ist insoweit zuzustimmen, dass 40 Jahre eine sehr lange Aufenthaltsdauer ist und sie aufgrund dessen ein grosses privates Interesse am Verbleib in der Schweiz hat. Die lange Aufenthaltsdauer korreliert aber keineswegs mit der Integration, die als äusserst mangelhaft bezeichnet werden muss. Ein weiteres privates Interesse macht die Beschwerdeführerin nicht geltend und ist nicht ersichtlich. Die Beschwerdeführerin kam als erwachsene Person in die Schweiz und hat ihre prägenden Jugendjahre in der Türkei verbracht. Da sie über beträchtliche Deutschdefizite verfügt, ist anzunehmen, dass sie immer noch regelmässig in türkischer Sprache kommuniziert. Dass die Beschwerdeführerin das Rückreisevisum in die Türkei, welches sie beantragt hat, aufgrund ihrer finanziellen Lage und ihrem schlechten Gesundheitszustand nicht genutzt habe, ist reine Schutzbehauptung. Vielmehr ist anzunehmen, dass sie immer noch Verwandte und Bekannte in der Türkei hat. Der Kontakt zu ihren volljährigen Kindern in der Schweiz kann sie über elektronische Mittel pflegen. Sie macht nicht einmal geltend, dass der Kontakt zu ihren Kindern eng sei. Es bestehen keine Hinweise, dass die sozialen oder sprachlichen Bindungen zur Schweiz stärker wären als zur Türkei. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass sie sich aufgrund der Sprache in der Türkei schnell wieder zurechtkommen wird. Sogar der Hausarzt benannte in seinem Bericht, dass u.a. die kulturelle (türkische) Einstellung sie daran hindere, eingegliedert zu werden. In der hiesigen Gesellschaft und Kultur ist die Beschwerdeführerin jedenfalls nicht nennenswert verwurzelt.

 

3.6. Das Argument der Beschwerdeführerin, dass an ihrem Verbleib in der Schweiz keine überwiegenden öffentlichen Interessen am Bewilligungswiderruf gegenüber stünden, ist zu widersprechen. Der in diesen Jahren bezogene Sozialhilfebetrag ist sehr wohl hoch. Auch dürfte sich der Betrag angesichts der fortbestehenden Unterstützungsbedürftigkeit bis heute noch wesentlich erhöht haben und zukünftig ohne absehbares Ende weiter anwachsen. Wegen der erheblichen und fortbestehenden Sozialhilfeabhängigkeit ist von einem gewichtigen öffentlichen Interesse an der Entfernungsmassnahme auszugehen. Es ist nicht ersichtlich, wie über diese langjährige, umfangreiche und ohne absehbares Ende weiterbestehende Abhängigkeit hinaus noch irgendwelche besonders gewichtigen Zusatzerfordernisse erfüllt sein müssten, um von einem grossen öffentlichen Interesse am Widerruf der Niederlassungsbewilligung auszugehen.

 

3.7. Zumutbar erscheint auch eine Rückkehr in die Türkei. Es wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Die Beschwerdeführerin hat bis ins Erwachsenenalter in der Türkei gelebt. Sie ist dort aufgewachsen und wurde dort sozialisiert. Es ist davon auszugehen, dass sie ihrem Heimatland in kultureller und sprachlicher Hinsicht nach wie vor verbunden ist. Die wirtschaftlichen Perspektiven im Heimatland dürften für sie zwar angesichts der Umstände nicht einfach sein. Allerdings hat sie auch in der Schweiz wirtschaftlich nicht Fuss fassen können und kann daraus nichts abgeleitet werden. Überdies sind keine unüberwindbaren Hindernisse für eine Rückkehr in die Türkei ersichtlich.

 

4. Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. Gestützt auf die obigen Erwägungen wird die Niederlassungsbewilligung der Beschwerdeführerin widerrufen. Die Beschwerdeführerin wird weggewiesen und hat die Schweiz – unter Androhung von Zwangsmassnahmen im Unterlassungsfall – bis spätestens 60 Tage nach Rechtskraft des vorliegenden Entscheids zu verlassen.

 

5.1. Bei diesem Ausgang hat die Beschwerdeführerin grundsätzlich die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht zu bezahlen, welche inklusive Entscheidgebühr auf CHF 1'500.00 festzusetzen sind. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege trägt der Kanton Solothurn diese Kosten; vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Kantons Solothurn während zehn Jahren, sobald die Beschwerdeführerin zur Nachzahlung in der Lage ist (vgl. Art. 123 der Zivilprozessordnung [ZPO]).

 

5.2. Der unentgeltliche Rechtsbeistand der Beschwerdeführerin reichte eine Kostennote zu den Akten. Die Höhe der Kostennote erscheint angemessen. Der Kanton Solothurn hat dem unentgeltlichen Rechtsbeistand, Rechtsanwalt Alexander Kunz, Solothurn, zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege eine Entschädigung von CHF 2'699.40 auszurichten. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während zehn Jahren, sobald die Beschwerdeführerin zur Nachzahlung in der Lage ist (Art. 123 ZPO).

 

 

Demnach wird erkannt:

 

1.    Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.    Die Beschwerdeführerin wird weggewiesen und hat die Schweiz – unter Androhung von Zwangsmassnahmen im Unterlassungsfall – bis spätestens 60 Tage nach Rechtskraft des vorliegenden Entscheids zu verlassen.

3.    Die Beschwerdeführerin hat die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht von CHF 1'500.00 zu bezahlen. Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege trägt der Kanton Solothurn die Kosten. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Kantons während zehn Jahren, sobald die Beschwerdeführerin zur Rückzahlung in der Lage ist (Art. 123 ZPO).

4.    Der Kanton Solothurn hat dem unentgeltlichen Rechtsbeistand, Rechtsanwalt Alexander Kunz, zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege eine Entschädigung von CHF 2'699.40 auszurichten. Vorbehalten bleibt der Rückforderungsanspruch des Staates während zehn Jahren, sobald die Beschwerdeführerin zur Nachzahlung in der Lage ist (Art. 123 ZPO).

 

 

 

Rechtsmittel: Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Eröffnung des begründeten Urteils beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten eingereicht werden (Adresse: 1000 Lausanne 14). Die Frist wird durch rechtzeitige Aufgabe bei der Schweizerischen Post gewahrt. Die Frist ist nicht erstreckbar. Die Beschwerdeschrift hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift des Beschwerdeführers oder seines Vertreters zu enthalten. Für die weiteren Voraussetzungen sind die Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes massgeblich.


Im Namen des Verwaltungsgerichts

Der Vizepräsident                                                             Die Gerichtsschreiberin

Müller                                                                                Hasler

 

Das vorliegende Urteil wurde vom Bundesgericht mit Urteil 2C_338/2023 vom 27. November 2023 bestätigt.